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Wir brauchen Rechtssicherheit und mehr verkaufsoffene Sonntage

Interview, Städtebau, Wirtschaft

Der Einzelhandel leidet unter den Folgen der Corona-Krise. Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverband Deutschland (HDE) und der KPV-Bundesvorsitzende Christian Haase MdB unterbreiten im Doppelinterview Vorschläge, wie Innenstädte wieder attraktiver werden können.

KOPO: 50.000 Geschäften droht die Insolvenz. Angesichts solch dramatischer Zahlen, wird es die Fußgängerzone in fünf Jahren überhaupt noch geben?

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Stefan Genth: Die Fußgängerzone bleibt, wenn auch nicht dergestalt, wie wir sie heute kennen. Es besteht Optimierungsbedarf, was Erreichbarkeit, Sicherheit, Service, Ambiente und Aufenthaltsqualität angeht. Es ist meine feste Überzeugung, dass auch in einer zunehmend digitalen Welt die Menschen analoge Begegnungen wollen, übrigens auch junge Leute. Die Shell-Studie und andere Untersuchungen belegen das. Der Handel befindet sich inmitten des Wandels zu einer digitalen Welt. Der Kunde differenziert nicht zwischen On- und Offline. Wenn das Angebot im Netz stimmt, kauft er dort ein. Das sind aber dieselben Kunden, die auch in eine attraktive Innenstadt kommen.

KOPO: Weswegen Sie jüngst eine Kooperation mit Google eingegangen sind?

Stefan Genth: Im aktuellen Koalitionsvertrag ist das Kompetenzzentrum Handel 4.0, verankert. Es liegt in der Verantwortung des Wirtschaftsministers mit Beteiligungen von Universitäten und Beratungen unter der Federführung des HDE. Dieses Kompetenzzentrum hat die Aufgabe, den mittelständischen Handel in die digitale Welt zu begleiten. Das heißt nicht, dass in Zukunft jeder Händler einen E-Commerce-Shop betreiben muss, aber die Geschäfte müssen digital auffindbar sein. Während der Zeit des Lock-Downs haben wir Webinare mit 300 bis 400 Einzelhändlern gemacht, die dann sehr schnell die Chancen erkannt haben, wie sie mit ihren Kunden Kontakt halten können. Jetzt folgen zusammen mit Google Webinare und Trainings – auch physische Trainings unter Corona-Bedingungen in ganz Deutschland. Wir beobachten eine starke Aufgeschlossenheit der Händler gegenüber dem Online- Handel, die es so vorher nicht gegeben hat. Die vergangenen fünf Monate Corona-Krise haben eine Entwicklung von fünf Jahren beschleunigt.

KOPO: Herr Haase, wie sehen Sie das? Die Bundesregierung wirbt für die Einhaltung der AHAS Regeln. Abstand – Hygiene – Alltagsmaske. Beim Online-Shoppen kann ich diese Regeln einfach befolgen. Darf man während einer Pandemie überhaupt bummeln gehen?

Christian Haase MdB: Was wir brauchen sind individuelle Konzepte, dafür sind die Ordnungs- und Gesundheitsämter vor Ort gefragt: Sie müssen entscheiden, was vertretbar ist. Beim Einkaufen geht es um mehr als den bloßen Erwerb einer Hose oder Jacke, es geht um ein Erlebnis. Natürlich geht die – notwendige – Maskenpflicht mit einem Verlust an Komfort einher. Wir müssen auch die Anreise bedenken – gerade jetzt in der Erkältungszeit möchten viele nicht in überfüllte Bussen steigen. Gefragt sind Citymanager und andere, lokale Verantwortliche, um sachgerechte Lösungen zu entwickeln und durchzuführen.

KOPO: Was halten Sie von der autofreien Innenstadt?

Christian Haase MdB: Individualverkehr meint auch das Auto – das ist für mich, als jemand, der vom Land kommt, untrennbar miteinander verbunden. Ob wir dieses Transportmittel in 20 Jahren noch Auto nennen oder in Flugtaxis steigen – eines wird bleiben: Wir werden individuell in die Städte reisen. Wir dürfen nicht erwarten, dass der ÖPNV aus den Ballungszentren 1:1 auch auf dem Land stattfinden wird. Das bedeutet für die Städte, dass sie entsprechend investieren und genügend Parkraum bereitstellen müssen.

KOPO: Herr Genth, spielen solche Überlegungen bei Ihnen auch eine Rolle, beispielsweise beim Innenstadtfonds von 500 Millionen Euro, den Sie fordern, um die Innenstädte wieder attraktiver zu machen?

Stefan Genth: Die Kommunen müssen vom Kunden herdenken, fühlt dieser sich nicht abgeholt, kann er auch woanders einkaufen, sei es im Internet oder einer anderen Region. Die geforderten finanziellen Mittel in Höhe von 500 Millionen Euro jährlich sollen nicht direkt dem Einzelhandel, sondern besonders den Kommunen zu Gute kommen. Diese müssen in die Lage gebracht werden, die erforderlichen Konzepte umzusetzen. Wir fordern gemeinsam mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund, dem Städtetag, der Bundesstiftung Baukultur und dem Deutschen Verband für Wohnungswesen, die Kommunen zu ertüchtigen, anspruchsvolle Planungskonzepte mit Flächenkonzepten zu erstellen: Das beinhaltet neben Konzepten für den Einzelhandel beispielsweise auch ein Leerstandskataster. Ziel ist es, einen Spannungsbogen für die Innenstädte zu erschaffen, indem auch kulturelle und gastronomische Angebote hinzugefügt werden. Mit der Verdrängung des Kleingewerbes und großen Verwaltungen aus den Innenstädten sind Frequenzen verloren gegangen. Die müssen wir zurückholen.

KOPO: Herr Haase, was sagen Sie zu diesen Forderungen?

Christian Haase MdB: Die Kommunen müssen mehr tun, als ein Einzelhandelskonzept zu erstellen. Wir brauchen in der Verwaltung jemanden, der weiß, wie der Einzelhandel funktioniert. Das ist nicht Teil der Ausbildung. Entscheidend ist zu verstehen, was vor Ort funktioniert. Das mag an einem Ort der verkaufsoffene Sonntag sein, an anderer Stelle sind es fünf lange Abende. Das lässt sich nur herausfinden, wenn ich vor Ort in die Geschäfte gehe und die Atmosphäre persönlich erfahre. Nichts halte ich hingegen von dem Vorschlag, dass die Kommune als Immobilienmanager auftritt und ganze Straßenzüge aufkauft. Städte sind keine Immobilienmakler, sie können allenfalls einmalig ein prekäres Grundstück kaufen mit Mitteln der Städtebauförderung. Wenn es darum geht, daraus etwas Neues zu entwickeln, muss ein Partner ins Spiel kommen.

Stefan Genth: Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Herr Dedy vom Städtetag sprach in diesem Zusammenhang von einem Bodenfonds. Vergleichbares gibt es in Paris: Die Kommune hat Geld bekommen, um Standortlagen aufzukaufen, um in den Stadtbezirken – und zwar nicht nur in den 1a-Lagen – eine normale Nahversorgung mit Schuster, Bäcker und Fleischer aufrechtzuhalten. Diese aktive Steuerung war zeitlich begrenzt. Solch ein Vorgehen finde ich auch für Deutschland spannend, beispielsweise für die Zukunft von früheren Warenhausstandorten. Ich bin überzeugt, dass wir auch in Zukunft noch Kaufhäuser in der Innenstadt haben werden, wenn auch nicht mehr über fünf oder sechs Etagen in einer 100.000-Einwohner-Stadt. Eine Idee wäre, dass die Gemeinde da- für sorgt, dass die Miete im Erdgeschoss für den Handel bezahlbar bleibt, darüber könnten sich Wohnen, Dienstleistungen, Büros bis hin zu Pflegeeinrichtungen ansiedeln. Ziel des Bodenfonds muss es sein, ein solches Steuerungsinstrument zu schaffen. Denn was nutzt die beste kommunale Planung, wenn sie anschließend niemand ausführt?

Christian Haase MdB: Wir müssen auch ein Auge darauf haben, wer diese Immobilien dann bewirtschaftet. Große Wohnungsunternehmen mit Sitz in ausländischen Metropolen haben häufig keinen Bezug zu den lokalen Mietern.

KOPO: Der Online-Handel legte in den vergangenen zehn Jahren um sagenhafte 279 Prozent zu. Die Kehrseite des Onlinehandels: Verstopfte Straßen und Luftverschmutzung: Wie stehen Sie zu der Forderung, den Online-Handel mit einem „Liefercent“ an den Kosten zu beteiligen?

Stefan Genth: Die Zuwachsraten fallen deshalb so gigantisch aus, weil der Online-Handel bei null Prozent gestartet ist. Wir haben im Einzelhandel ein Umsatzvolumen von 550 Milliarden Euro, der Onlineumsatz im Einzelhandel beträgt 68 Milliarden Euro. Der Zuwachs des Onlinehandles während des Lockdowns betrug zwischen 20 und 30 Prozent. Wir haben definitiv Herausforderungen zu lösen im Bereich der Zustellung. Hier fehlt es an Koordination und Bündelung. Im Moment fährt jeder Zusteller mit seinem kleinen LKW überall hin, parkt in der zweiten Reihe und verstopft die Straßen – und die Kunden sind meist noch nicht einmal zuhause. Click und Collect ist ein Modell für die Zukunft genau wie die digitalen Hubs von Karstadt/Kaufhof. Darüber hinaus haben wir mit DHL als dem größten Dienstleister intensive Gespräche geführt, wie wir auch in Wohnbereichen mit Geschosswohnungsbau zentrale Postfächer einrichten können, die mehreren Lieferdiensten offenstehen. Dies ist zielführender als einen Strafeuro für Onlinebestellungen einzuführen.

KOPO: Können die Retouren weiterhin kostenfrei bleiben? Was passiert mit den zurückgesendeten Waren?

Stefan Genth: Retourenmanagement verursacht für den Handel enorme Kosten. Wir setzen darauf, dass es in Zukunft eine bessere Verzahnung von stationären und Online-Handel geben wird. Bedeutet, ich bestelle mir zwei bis drei Paar Schuhe in verschiedenen Größen und Farben und bringe dann zwei Paar auf dem Weg zur Arbeit in die Filiale zurück. Oder ich bin etwa in der Filiale und mein Wunschmodell ist nicht in meiner Größe vorrätig, dann wird eine Bestellung noch im Laden ausgelöst und der Schuh wird noch am selben oder am nächsten Tag nach Hause geliefert.

KOPO: Herr Genth, was muss die Politik tun, um dem Einzelhandel zu helfen?

Stefan Genth: Wir brauchen Chancengleichheit zwischen innerstädtischem Handel und anderen Handelsformaten. Das beginnt beim Thema Erreichbarkeit: Hier diskutieren die Grünen über Citymaut-Konzepte, im Internet fällt kein Eintrittspreis an. Außerdem müssen wir das Wettbewerbs- und Kartellrecht durchsetzen auch bei den großen Plattformen. Zudem brauchen wir den Innenstadtfonds, damit die Kommunen besser planen können. Wir sollten darüber hinaus das Städtebaurecht reformieren: In lebendigen Innenstädten müssen Wohnen, Handel und Gewerbe stattfinden. Das ist mit Emissionen verbunden, sprich es wird etwas lauter. Und wir brauchen mehr Flexibilität in der Flächenentwicklung. Will sich der Supermarkt in der Innenstadt von 800 qm auf 2.000 qm vergrößern, muss er als Frequenzbringer dort gehalten und darf nicht an den Stadtrand gedrängt werden. Auch wünschen wir uns mehr Freiheit und vor allem Rechtssicherheit, was die Ladenöffnungszeiten betrifft. Viele Bürgermeister beklagen das. Es braucht klare Regelungen und mehr verkaufsoffene Sonntage bzw. lange Verkaufsabende in den Städten. Die Kunden lieben diese besonderen Einkaufstage und der Handel hat kein Problem, hierfür Personal zu finden. Das jetzige System, in dem die Länder für das Ladenöffnungsgesetz zuständig sind, lässt die Kommunen außen vor und ist insofern nicht zielführend.

Christian Haase MdB: Als gläubiger Christ möchte ich anfügen, dass der Sonntag natürlich im besonderen Maße der Besinnung dient. Öffnen die Geschäfte jedoch erst um 13 Uhr, so steht dies nicht im Konflikt zum Kirchenbesuch am Vormittag. Zuletzt hat der Stadtrat in Bünde (NRW) gegen den Widerstand der Gewerkschaften entschieden, einen verkaufsoffenen Sonntag durchzuführen. Gerade in diesem Jahr mit den großen Einschränkungen durch die Pandemie sind verkaufsoffene Sonntage eine Notwendigkeit. Dies sehen auch die von vielen Kürzungen betroffenen Mitarbeiter so. Es ist geradezu absurd, dass ausgerechnet deren Interessenvertretung Verdi so vehement gegen die Sonntagsöffnung argumentiert.

Stefan Genth: Ein bis zwei verkaufsoffene Sonntage im Advent könnten dazu beitragen, das Weihnachtsgeschäft zu entzerren. Das ließe sich über die Corona-Schutzverordnung durch die Länder organisieren, so wie das auch beim Lebensmittelhandel während des Lockdowns erfolgt ist.

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