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Wir brauchen mehr kommunalen Sachverstand

Integration, Interview, Ländlicher Raum, Mobilität, Wahlen

Nach mehr als zehn Jahren an der Spitze des Deutschen Landkreistages übergibt Reinhard Sager im September dieses Jahres den Staffelstab an Dr. Achim Brötel. Wir haben uns mit dem alten und neuen Päsidenten Ende Mai zum Interview getroffen. Auch mit am Tisch: DLT-Hauptgeschäftsführer Prof. Dr. Hans-Günter Henneke.

KOPO: Ich würde gerne mit Ihnen starten, Herr Prof. Dr. Henneke. In Ihrer Funktion als jahrzehntelanger Hauptgeschäftsführer des Landkreistages bilden Sie das Bindeglied zwischen dem alten und neuen Präsidenten. Was bedeutet der Abschied von Herrn Sager nach zehn Jahren beim Deutschen Landkreistag für Ihre praktische Arbeit?

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke: Ich bin selbst seit 23 Jahren als Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages tätig, und habe in dieser Zeit nur mit zwei Präsidenten zusammengearbeitet. Mit Hans Jörg Duppré von 2002 bis 2014 sowie mit Reinhard Sager von 2014 bis September dieses Jahres. Diese langjährigen Amtszeiten und die damit verbundene Kontinuität stellen für mich eine Stärke des DLT dar. Wir konnten damit Persönlichkeiten etablieren, die in den Medien und der breiten Öffentlichkeit den DLT repräsentieren. Das erwarten wir auch vom künftigen Präsidenten. Ich bin als Hauptgeschäftsführer sehr dankbar für diese enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit. Das meiste, was wir zu besprechen haben, lieber Reinhard (wendet sich lächelnd an Reinhard Sager) müssen wir gar nicht besprechen, weil wir ohnehin auf die gleiche Art und Weise denken und argumentieren.

KOPO: Lieber Herr Sager, wenn Sie auf Ihre Amtszeit zurückblicken, wie fällt Ihr Resümee aus? Und wie blicken Sie auf die zahlreichen externen Krisen während Ihrer Amtszeit zurück?

Reinhard Sager: Ein Resümee hängt von den zugrundeliegenden Kriterien ab. Mein Maßstab ist es,
mit unseren Positionen und Argumenten bundesweit durchzudringen. Wir sind in 13 Flächenländern
vertreten, wobei die Landkreise jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Dennoch gelingt
es uns, über unser Präsidium und unsere Ausschüsse unsere Positionen zu bündeln und aus einem
Guss zu argumentieren. Unsere Landkreise legen Wert darauf, dass wir auch in den Leitmedien stattfinden – und das ist uns gelungen. Zum Resümee gehört auch, was wir nicht geschafft haben. Beim
Erreichen gleichwertiger Lebensverhältnisse hätte ich mir mehr Tempo gewünscht. Beispiel Wohnraum: Wir haben Leerstand im ländlichen Raum, der nicht genutzt wird, weil die Infrastruktur fehlt.
Von den Krisen – ich als ehemaliger Landrat spreche von Lagen – hatten wir in den vergangenen Jahren einige. Einschneidend war ganz sicherlich 2015/2016, da war ich ein Jahr im Amt, mit der ersten großen Flüchtlingswelle. Herausfordernd waren auch die zahlreichen Hochwasserlagen wie jüngst im Süden
der Bundesrepublik. Schließlich die Corona-Pandemie, die uns fast drei Jahre lang in Atem hielt. Dazu
kam der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zu Beginn des Jahres 2022 mit ganz erheblichen Auswirkungen auf uns vor Ort, Stichwort Unterbringung der Geflüchteten. Insgesamt ist die Welt nicht ruhiger geworden, der Migrationsdruck ist erheblich. Daneben müssen die Landkreise als
Bündelungsebene auch ihre vielfältigen eigentlichen Aufgaben bewältigen: Krankenhausversorgung, Abfallbeseitigung, Umwelt- und Naturschutz, der gesamte Sozialbereich, um nur einige
zu nennen.

KOPO: Sie hatten es während Ihrer Amtszeit mit verschiedenen Bundesregierungen zu tun. Bemerken Sie Unterschiede?

Reinhard Sager: Kurze Antwort: Bei Bundeskanzlerin Merkel wurden wir häufig gefragt und ins Kanzleramt eingeladen. Das ist vorbei. Schlimmer noch als die anhaltende Nichtbeteiligung der kommunalen Spitzenverbände bei wichtigen Fragen ist die inhaltliche Ausrichtung. Wir haben bis Ende 2021 die flüchtlingsbedingten Unterkunftskosten von der alten Bundesregierung ersetzt bekommen. Das haben Herr Scholz und seine Ampel gestrichen. Wir sprechen bis heute von 6,5 Milliarden Euro. Das tut uns richtig weh.

KOPO: Vergangene Woche gab es wieder eine Ministerpräsidentenkonferenz-Runde unter anderem zum Thema Flüchtlingspolitik. Wie bewerten Sie die Ergebnisse?

Reinhard Sager: Die Ansätze sind richtig, würden sie konsequent verfolgt und in zeitlich überschaubaren Zeiträumen umgesetzt, wäre es noch besser. Ich befürchte, die Menschen in Deutschland haben das Gefühl, dass große Töne gespuckt werden. Es war ja kein Geringerer als der Bundeskanzler selbst, der im letzten Herbst Abschiebungen im großen Stil angekündigt hat. Aber bis heute ist praktisch nichts passiert. Wer so Politik macht, der muss sich nicht wundern, dass ihm die Wähler wie aufgescheuchte Hasen bei der Treibjagd davonlaufen und entweder gar nicht wählen oder ihr Kreuz bei Parteien machen, von denen wir uns nicht vorstellen, dass sie gut wählbar sein könnten.

KOPO: Aber in Sachen Bezahlkarte und Drittstaatenmodell wurden jetzt Beschlüsse gefasst.

Reinhard Sager: Die Bezahlkarte ist ein Erfolg. Sie ist geeignet, den materiellen Anreiz für Ankommende zu verringern. Und das muss auch so sein. Es kann nicht sein, dass Geld nach Hause geschickt wird, so bedürftig und arm die Familien im vorderen Asien oder in Afrika auch sein mögen. Das ist nicht die Intention von Flüchtlingsaufnahme und widerspricht auch dem Gerechtigkeitsempfinden innerhalb der Gesellschaft. Zum Drittstaatenmodell: Das müssen wir sorgfältig prüfen, aber mit der Intention, es auch umsetzen zu wollen. Dass damit auch Probleme verbunden sind, wissen wir aus Großbritannien. Das Allerwichtigste ist, dass die irreguläre Zuwanderung zum Erliegen kommt. Wir haben schon heute zu viele Menschen, die nicht integriert sind. Uns fehlt es an Kapazitäten. Ein „Weiter so“ ist sozialer Sprengstoff.

KOPO: Herr Dr. Brötel, Sie stehen für die Zukunft. Welche Herausforderungen und Krisen
sehen Sie?

Dr. Achim Brötel: Wir leben in herausfordernden Zeiten. Ich selber versuche das Wort Krise zu vermeiden, weil Krisen haben so was Schicksalhaftes, was sich nicht oder nur schwer kontrollieren lässt. Unser Ziel muss es aber sein, Herausforderungen anzunehmen und Lösungen zu finden, sprich: vor die Lage zu kommen. Der Personal- und Fachkräftemangel ist eine immense Herausforderung. Selbst wenn es morgen Goldstücke regnen würde, worauf zumindest meine Wetter-App nicht hindeutet, hätten wir noch keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die zweite große Herausforderung ist die strukturelle Unterfinanzierung auf kommunaler Ebene.

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke: So ist es. Wir werden im kommunalen Bereich in diesem Jahr ein zweistelliges Milliardendefizit erwirtschaften. Das entspricht auf Deutsch ungefähr dem
Verschuldungspotenzial, das der Bund nach Schuldenbremse ohne Konjunkturkomponente hat. Diese ganzen Diskussionen, die wir führen, gehen an der Realität vorbei. Statt zu feilschen, was das 49-Euro-Ticket kosten darf, müssen wir erstmal in ein Mobillitätsangebot im ländlichen Raum investieren. Ist das Angebot da, werden die Menschen es auch bezahlen.

Dr. Achim Brötel: Die Migration ist eine immense Herausforderung für die Landkreise. Wir wollen den Menschen nicht nur ein Dach über dem Kopf bieten, wir möchten sie auch integrieren. Wir wollen in Deutschland keine Parallelgesellschaften wie in anderen Teilen Europas. Schließlich müssen wir unsere Aufgabe der Daseinsvorsorge in der Fläche aufrechterhalten. Beispiel Krankenhausreform: Auch hier gilt, was mein Kollege Reinhard Sager vorhin angesprochen hat: Die Bundesregierung redet nicht mit
den Betroffenen. Stattdessen erleben wir gerade eine Reihe an Insolvenzen.

KOPO: Aber die Krankenhausreform setzt doch auf Vorhaltepauschalen, um Leistungen in der Fläche anzubieten, die andernfalls nicht wirtschaftlich wären.

Dr. Achim Brötel: Verantwortlich für den Niedergang ist die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, die 2002 die Fallpauschalen einführte. Insofern ist die Abkehr von der Fallpauschale hin zu Vorhaltepauschalen richtig. Die Ausführung stimmt aber nicht. Wir brauchen dringend ein Vorschaltgesetz, damit wir der Reform eine vernünftige Struktur geben. Im Moment laufen wir in einen kalten Strukturwandel, die ersten Häuser gehen in die Insolvenz. Das ist fatal für den ländlichen Raum.

Reinhard Sager: Es ist so wie Achim Brötel sagt: Die Idee der Vorhaltepauschale ist grundsätzlich richtig. Nur werden die Kliniken im ländlichen Raum auch bei 60 Prozent Vorhaltekosten nicht wirtschaftlich arbeiten können. Wir müssen uns zunächst die Auswirkungen sorgfältig anschauen, und dann die Reform entsprechend aufsetzen. Sonst kaufen wir die Katze im Sack und das ist das Schlechteste für unser Gesundheitssystem.

KOPO: Themenwechsel: Wenn man die Berichterstattung zu den Europa- und Kommunalwahlen verfolgt, spricht daraus eine große Sorge vor dem Erstarken extremistischer Parteien insbesondere in Ostdeutschland. Viele Berichte wirken alarmistisch und skandalisierend. Welche Rückmeldung bekommen Sie von den kommunalen Amts- und Mandatsträgern zu diesem Thema?

Reinhard Sager: Die Stimmung vor Ort ist viel gelassener als es in den Medien dargestellt wird. Zur
Einordnung: Bei den Stichwahlen am 9. Juni haben wir keinen einzigen Hauptverwaltungsbeamten der AfD hinzubekommen. Wir haben nur einen einzigen AfD-Landrat in ganz Deutschland, der ja auch
schon überprüft wurde nach nur zwölf Monaten seines Wirkens. Zu gut Deutsch: Da war nichts unter dem Schottenrock. Bei den Kreistagen sieht das schon ein bisschen anders aus. Grundsätzlich gilt:
Man muss die Politik in Deutschland ändern, um die Ränder klein zu halten. Die Wahlergebnisse sind eine Absage an das Ampel-Klein-Klein und die unglaubliche Vorschriftenwut, die uns insbesondere die Grünen eingebracht haben. Es sind diese Auswüchse, die am Ende zu Enttäuschungen führen in der Wählerschaft. Auf der kreiskommunalen Ebene sind wir am besten beraten, das Thema AfD nicht jeden Tag wie eine Sau durchs Dorf zu treiben. Entzauberung und eine bessere Politik sind die wirksameren Instrumente.

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke: Prinzipiell begrüßen wir es, wenn Europawahlen und Kommunalwahlen am selben Tag stattfinden, weil es sich positiv auf die Wahlbeteiligung auswirkt. Jetzt bedauern einige, dass ihre Kandidaten nicht zum Zuge kommen, obwohl die AfD ihre gewonnenen Mandate teilweise nicht besetzen konnte. Sie hatte zu wenig Kandidaten aufgestellt. Das muss doch auch der Wähler merken: Wenn seit Weihnachten die Umfragewerte bei rund 30 Prozent liegen, brauche ich genügend Personal. Kreistage in Sachsen sind groß. Doch für den Protestwähler ist es egal, ob der von ihm Gewählte in der Versammlung Randale macht – oder gar nicht da ist. Alle anderen sollten klug überlegen, ihre Stimme nicht zu verschenken. Grundsätzlich gilt: Kommunalpolitik ist Kommunalpolitik. Die Menschen, die sich in diesem Ehrenamt engagieren, egal von welcher Gruppe, müssen sich einfinden und Zeit mitbringen.
Reinhard Sager und ich haben letzte Woche mit den Vorsitzenden unserer ostdeutschen Verbände
gesprochen: Wir haben fünf Landkreise in Ostdeutschland von 58, in denen die AfD mehr als ein
Drittel, aber nie mehr als 38 Prozent der Stimmen geholt hat. Ein Drittel ist nicht unerheblich, aber keine Mehrheit. Nun finden überall die kreistagskonstituierenden Sitzungen statt. Anders als im Bundestag oder Landtag stellt nicht die stärkste Fraktion den Kreistagsvorsitzenden, sondern die oder der Vorsitzende wird aus der Mitte heraus bestimmt. In Sachsen sitzt der Landrat dem Kreistag vor. Bei genauerer Betrachtung ist die blaue Karte ein Luftballon, aus dem die Luft weicht. Die Ergebnisse für die AfD liegen grundsätzlich zwischen 25 Prozent und einem Drittel – das heißt, zwei Drittel bis Dreiviertel stimmten nicht für die AfD.

Dr. Achim Brötel: Die Bürgerinnen und Bürger haben den Anspruch, dass die kommunale Ebene funktioniert. Dafür benötigen wir Fachkompetenz und Durchsetzungskraft, aber keine Parteipolitik. Ich habe es immer sehr geschätzt, dass Kommunalpolitik Sachpolitik ist mit Ausnahme der Haushaltsberatungen. Deswegen rate ich uns allen zur Gelassenheit und Professionalität.

KOPO: Welche Probleme sollte die Ampel-Regierung jetzt anpacken?

Reinhard Sager: Das ist der Kern des Problems: Die Ampel-Regierung verweigert sich, Aufgaben zu priorisieren. Die Treppe wird aber von oben gefegt. Wir können uns nicht mehr alles leisten, was wir uns mal ausgedacht haben und in Parteiprogrammen und Koalitionsverträgen niedergeschrieben haben. Stattdessen erleben wir, dass schon bevor überhaupt ein Haushalt zusammengeschustert wird, erklärt wird, was alles Tabuthemen sind. Praktisch sind überall rote Linien, insbesondere im Sozialbereich. Eine rückläufige Staatsquote hatten wir zuletzt vor der Deutschen Einheit.

Dr. Achim Brötel: Wir müssen bei den Aufgaben, die der Staat wahrnimmt, und bei den Standards zu deutlichen Abstrichen kommen, wenn das ganze System noch leistungsfähig bleiben soll. Stichwort Sozialausgaben: Dazu ist ein Gutachten des Normenkontrollrates erschienen mit einem eindrücklichen Fallbeispiel: Eine durchschnittliche Familie, Vater, Mutter, ein Kind, miteinander verheiratet, beide Eltern berufstätig, erwarten ihr zweites Kind. Diese Familie hat Anspruch auf fünf Sozialleistungen von vier unterschiedlichen Behörden. Das müssen wir einfacher und effizienter hinbekommen. Hier sollten Bund und Länder unseren kommunalen Sachverstand öfter miteinbeziehen. Ich nehme Politik in Deutschland als Schichtmodell wahr: Es gibt die Bundes-, die Landes- und die Kommunale Ebene. Aber es gibt ganz wenige Verbindungen zwischen den Ebenen, es gibt auch ganz wenig Verständnis füreinander, da müssen wir ansetzen. So etwas wie die Wohngeldreform, wo von Beginn an klar war, dass am Tag des Inkrafttretens keine entsprechende EDV-Lösung zur Verfügung steht, darf nicht passieren. Wir müssen unseren Austausch intensiveren.

KOPO: Ich habe in der FAZ noch von einer anderen Personalie beim Deutschen Landkreistag gelesen.

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke: Ja es stimmt, ich höre Ende 2025 auf, auch wenn ich schon mehrere Anrufe hatte, die überzeugt waren, die Meldung sei eine Ente. Wenn wir Herrn Brötel mit Wirkung vom 10. September zum neuen Präsidenten wählen, werden wir unseren bisherigen Beigeordneten Dr. Kay Ruge zum Hauptgeschäftsführer ab 1.1.2026 ernennen. Das wird dann eine ähnliche Konstellation wie mit Reinhard Sager und mir. Ich sehe Kay Ruge bis 31.12.2037 im Amt.

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