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Einzelhandel verschwindet auf dem Lande

Ländlicher Raum, Versorgung

Eine Langzeitstudie von 1973 bis 2012 für das Elbe-Weser-Dreieck belegt den Rückzug des Einzelhandels aus der Fläche des ländlichen Raums über einen Zeitraum von 40 Jahren. Die Versorgungsdefizite ha-ben sich dramatisch beschleunigt. Schreitet die Entwicklung wie in den vergangenen Jahren fort, wird schon im Jahr 2025 fast die Hälfte der Einwohner des Elbe-Weser-Dreiecks in vielen Ortschaften ohne Lebensmittel-Angebot leben. In anderen Teilen Deutschlands sieht es oft sogar noch deutlich schlechter aus.

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Portrait-Dr--Steinröx-WEin Beitrag von Dr. Manfred Steinröx,
Projektentwickler für Kommunen

 

Bei dem Rückzug des Einzelhandels aus den ländlichen Gegenden geht es nicht nur um den Aspekt der Lebensmittelversorgung. Wenn sich der Handel zurückzieht, mangelt es bald auch an ärztlicher, sozialer und kultureller Versorgung. Die Qualität der Wohn- und Lebensqualität in kleineren Gemeinden wird sich weiter verschlechtern. Für diese Entwicklung gibt es keine Region in Deutschland, für die detaillierte Daten für einen Zeitraum von 40 Jahren vorliegen. Das Elbe-Weser-Dreieck ist eine Ausnahme: hier wurden seit 1973 zusammen mit den Städten und Gemeinden flächendeckend drei Untersuchungen durchgeführt, die einen exakten Blick auf diesen Prozess ermöglichen.

Das „Elbe-Weser-Dreieck“ setzt sich zusammen aus den Städten und Gemeinden der niedersächsischen Landkreise Cuxhaven, Stade, Rotenburg, Osterholz und Verden mit zusammen rund 780.000 Einwohnern. Basis der Untersuchung sind die Ortschaften, die kleinste statistische Einheit. So ist eine besonders präzise Darstellung der Verhältnisse von Wohnstandort und Nahversorgung möglich.

„Ländlicher Raum“ bedeutet in diesem Fall eine Region, in der es einerseits nur wenige größere Städte gibt: die Kreisstädte und einzelne weitere Städte, wie Achim und Buxtehude, haben zwischen 20.000 und 50.000 Einwohner.

Die Bevölkerungsdichte liegt mit 118 Einwohnern je km² um die Hälfte unter dem Bundesdurchschnitt. Andererseits ist die Region noch relativ günstig an die Oberzentren Hamburg und Bremen angebunden. Es handelt sich beim Elbe-Weser-Dreieck um eine „Randlage“, aber keinesfalls um ein „Notstandsgebiet“. Die Situation ist exemplarisch für die Lebenswirklichkeit der Einwohner im ländlichen Raum. Die Versorgungssituation in anderen Regionen dürfte bereits heute vielfach deutlich ungünstiger sein.

Die Ausgangssituation 1973

1973 lebten erst ganze zwei Prozent der Bevölkerung in den fünf untersuchten Landkreise in Orten ohne eigenes Lebensmittelangebot. 98 Prozent der Einwohner konnten ihre Lebensmittel also noch am Wohnort kaufen.  Aus heutiger Sicht ist eine solche komfortable Situation kaum mehr nachvollziehbar!

Schon 14 Jahre später war die Zahl der Gemeinden, in denen kein Lebensmittelgeschäft mehr vor Ort tätig war, deutlich angewachsen. Knapp zehn Prozent der Einwohner hatten kein Lebensmittelgeschäft mehr am Ort. Sicher eine deutliche Verschlechterung zum Wert Mitte der 70er Jahre – aber selbst in Gemeinden mit nur wenigen hundert Einwohnern konnte man in der Regel noch alle Zutaten für die tägliche Mahlzeit einkaufen.

Und heute? Die Grundversorgung ist mangelhaft

Der Anteil der Einwohner, an deren Wohnort es keinen Lebensmittel-Einzelhandel mehr gibt, hat sich in vier Jahrzehnten mehr als verzehnfacht. Durchschnittlich 26 Prozent aller Einwohner des Untersuchungsgebietes leben heute in Orte ohne Grundversorgung.

Dabei gibt es deutliche regionale Unterschiede: Während im Landkreis Verden „nur“ 16 Prozent der Einwohner in Ortschaften ohne Lebensmittelangebot leben, trifft dies heute bereits auf jeden dritten Einwohner des Landkreises Rotenburg/Wümme zu. Die Gründe dafür liegen zunächst in der unterschiedlichen Einwohnerdichte der einzelnen Kreise. Mit 79 oder 96 Einwohnern je km² sind die Kreise Cuxhaven und Rotenburg deutlich weniger stark besiedelt, als im Durchschnitt des Untersuchungsgebietes oder als der Kreis Verden mit 373 Einwohnern/km². Eine geringe Einwohnerdichte ist ein deutlicher Hinweis auf meist kleinere Gemeinden und gleichzeitig größere Entfernungen zwischen den einzelnen Standorten.

Unabhängig von der Kreiszugehörigkeit gilt: wer in einer Gemeinde mit weniger als 1.500 Einwohner lebt, wird dort heute wahrscheinlich kein Lebensmittelangebot mehr finden. Die Landkarte zeigt, dass Entfernungen von zehn bis 15 Kilometer bis zum nächsten Lebensmittelgeschäft heute nicht mehr selten sind. Im ländlichen Raum ist die mangelhafte Versorgung also zur Regel geworden.

Dabei müsste das Angebot in den weißen Flächen, also denen, in denen (noch) ein Lebensmittelangebot vorhanden ist, weiter differenziert werden. Gerade in kleineren Gemeinden ist die Betriebsnachfolge häufig ungewiss. Geht der letzte Kaufmann, dem häufig auch das Gebäude gehört, in den Ruhestand, wird er oft keinen Nachfolger finden. Leerstand und Versorgungslücken sind die Folge.

„Geht der letzte Kaufmann, dem häufig auch das Gebäude gehört, in den Ruhestand, wird er oft keinen Nachfolger finden. Leerstand und Versorgungslücken sind die Folge.“

Bei der gezeigten Entwicklung handelt es sich übrigens um eine Einbahnstraße: Wo es 1973 und 1987 keinen Lebensmittelhändler vor Ort gab, fehlt dieser auch heute. Nur in wenigen Fällen konnten engagierte Kaufleute in kleineren Gemeinden Ladengeschäfte erfolgreich neu gründen.

einwohner in landkreisen

Geringe Einwohnerzahlen am Standort begrenzen die Umsatzerwartungen der Betriebe. Gleichzeitig führen sie meist zu ungünstigen Einkaufskonditionen, weil die Staffelung der Einkaufspreise vom Umsatz abhängt: Einzelhändler, die nur geringe Mengen beim Großhändler oder ihrer Einkaufsgemeinschaft ordern, zahlen je Artikel mehr. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, können sie die höheren Einkaufspreise aber nicht in gleichem Umfang an ihre Kunden weitergeben.

„Im Jahr 2025 werden voraussichtlich zwischen 40 bis 50 Prozent der Einwohner in Ortschaften ohne Lebensmittel-Angebot leben“

Die Veränderung des Altersdurchschnitts der Bevölkerung, deren Einkünfte, Kaufkraft und die Entwicklung der Einwohnerzahlen sind die maßgeblichen Aspekte, die über die künftige Entwicklung des Einzelhandels und damit der Versorgungsqualität entscheiden. Die Größenordnungen dieser Entwicklungen werden seit Jahren diskutiert – ihre Auswirkungen auf das Thema „Lebensmittelversorgung am Wohnort“ jedoch nur selten hergestellt und kaum in Zahlen gefasst.

Die Landkreise des Elbe-Weser-Raumes werden nach verschiedenen Prognosen bis etwa 2025 durchschnittlich zwischen fünf und zehn Prozent ihrer Bevölkerung verlieren. In Teilgebieten wird die Bevölkerung sogar deutlich stärker abnehmen. Aber noch eine zweite Entwicklung ist wichtig. Parallel zum Bevölkerungsrückgang werden die verbliebenen Einwohner immer älter: Im gleichen Zeitraum wird die Zahl der alten Menschen in der Altersgruppe, die älter ist als 80 Jahre, um zwischen 50 und 80 Prozent steigen. Eine Bevölkerungsgruppe also, die meist wegen einer bereits stark eingeschränkten Mobilität auf eine funktionierende Grundversorgung vor Ort angewiesen ist.

Einzelhandel ist der Maßstab für Lebensqualität

Der Einzelhandel war schon immer ein Maßstab für die Qualität der Lebensbedingungen. Wohnen ausreichend viele und kaufkräftige Bürger vor Ort, sind die Bedingungen für Geschäfte mit attraktiven Angeboten gut. Ladenleerstände sind dagegen ein Alarmsignal für einen bestehenden Strukturwandel, der sich nicht in geordneten Bahnen bewegt. Schließt der letzte Lebensmittelkaufmann seinen Laden, hat dies nicht nur Auswirkungen auf die Immobilie. Eine fehlende Nahversorgung stößt meist weitere Entwicklungen an. Können die Nahrungsmittel nicht am Wohnort gekauft werden, verlagern sich nicht nur die Einkaufsgewohnheiten, sondern auch die Beziehungen der Einwohner zu ihrer Gemeinde.

„Die Schulpflicht der Kinder, ein neuer Arbeitsplatz, das steigende Lebensalter, der Wunsch, nicht mehr so oft das eigene Auto benutzen zu müssen, sind Anlässe, über einen dauerhaften Standortwechsel nachzudenken.
Die Gemeinde verliert Einwohner – meist die Jungen und Leistungsfähigen.“

Die Gemeinde verliert Einwohner, meist sind es die Jungen und Leistungsfähigen, die zuerst gehen. Die demographische Entwicklung beschleunigt die Ausdünnung des Einzelhandelsangebotes auf dem Land – und umgekehrt. Zunächst werden nur die Einkäufe an anderer Stelle erledigt, dann werden dort auch andere Dienstleistungen getätigt, wie Bankdienstleistungen, Arztbesuche, Tanken, der Besuch von Sport- und Kulturveranstaltungen. Schließlich wird auch über einen Wohnungswechsel nachgedacht. Die Schulpflicht der Kinder, ein neuer Arbeitsplatz, das steigende Lebensalter, der Wunsch, nicht mehr so oft das eigene Auto benutzen zu müssen, sind Anlässe, über einen dauerhaften Standortwechsel nachzudenken. Die Gemeinde verliert Einwohner, meist sind es die Jungen und Leistungsfähigen, die zuerst gehen. Dies geht auch zu Lasten von Vereinen, privaten und öffentlichen Dienstleistern. Schwach ausgelastete Infrastruktur ist teuer.

Nahversorgung, Landflucht, Aufrechterhaltung der Wohn- und Lebensqualität gehören zusammen. Sollen die bestehenden öffentlichen Infrastruktur- und Dienstleistungsangebote weiter aufrechterhalten bleiben, müssen also auch Konzepte für funktionierende Versorgungsstrukturen entwickelt werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die Bevölkerungszahlen sinken und der Anteil alter und nur noch eingeschränkt mobiler Menschen in den kommenden Jahren deutlich steigen wird.

Strategien für die Zukunft

Es geht beim Thema „Einzelhandelsversorgung“ nicht nur um den letzten Kaufmann vor Ort. Es geht auch um die Vielzahl anderer öffentlicher und privater Dienstleistungsangebote, die ausbluten, wenn Menschen zunehmend in die Stadt pendeln müssen, um ihren täglichen Bedarf decken zu können.

Entwicklungspläne und Raumordnung unterstreichen seit den 70er Jahren, dass die Sicherung der „verbrauchernahen Versorgung“ ein wichtiges Ziel sei. Um dies umzusetzen, wurde vor allem versucht, die Ansiedlung oder Expansion von Filialbetrieben durch das Instrumentarium der Regional- oder Bauleitplanung zu steuern oder ganz zu unterbinden. Die Entwicklung der zurückliegenden Jahrzehnte zeigt jedoch, dass dieser Weg kaum erfolgreich war. Auch dort, wo es keine Discounter gibt, fehlen heute (kleine) Lebensmittelbetriebe. Es reicht also nicht, den Wettbewerb zu begrenzen: Weiterreichende Konzepte müssen maßgeschneidert entwickelt werden, um die Nahversorgung wieder sicherzustellen.

Der „Markt“ wird für dieses Problem keine Lösungen entwickeln. Filialisten und Discounter werden die Versorgungslücken nicht schließen. Deshalb ist politisches und bürgerschaftliches Engagement gefordert. Regional- und Bauleitplanung oder ein „guter Wille“ alleine sind nicht ausreichend, um dauerhafte Erfolge zu erzielen.

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