Eine Langzeitstudie von 1973 bis 2012 für das Elbe-Weser-Dreieck belegt den Rückzug des Einzelhandels aus der Fläche des ländlichen Raums über einen Zeitraum von 40 Jahren. Die Versorgungsdefizite ha-ben sich dramatisch beschleunigt. Schreitet die Entwicklung wie in den vergangenen Jahren fort, wird schon im Jahr 2025 fast die Hälfte der Einwohner des Elbe-Weser-Dreiecks in vielen Ortschaften ohne Lebensmittel-Angebot leben. In anderen Teilen Deutschlands sieht es oft sogar noch deutlich schlechter aus.
Bei der gezeigten Entwicklung handelt es sich übrigens um eine Einbahnstraße: Wo es 1973 und 1987 keinen Lebensmittelhändler vor Ort gab, fehlt dieser auch heute. Nur in wenigen Fällen konnten engagierte Kaufleute in kleineren Gemeinden Ladengeschäfte erfolgreich neu gründen.
Geringe Einwohnerzahlen am Standort begrenzen die Umsatzerwartungen der Betriebe. Gleichzeitig führen sie meist zu ungünstigen Einkaufskonditionen, weil die Staffelung der Einkaufspreise vom Umsatz abhängt: Einzelhändler, die nur geringe Mengen beim Großhändler oder ihrer Einkaufsgemeinschaft ordern, zahlen je Artikel mehr. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, können sie die höheren Einkaufspreise aber nicht in gleichem Umfang an ihre Kunden weitergeben.
„Im Jahr 2025 werden voraussichtlich zwischen 40 bis 50 Prozent der Einwohner in Ortschaften ohne Lebensmittel-Angebot leben“
Die Veränderung des Altersdurchschnitts der Bevölkerung, deren Einkünfte, Kaufkraft und die Entwicklung der Einwohnerzahlen sind die maßgeblichen Aspekte, die über die künftige Entwicklung des Einzelhandels und damit der Versorgungsqualität entscheiden. Die Größenordnungen dieser Entwicklungen werden seit Jahren diskutiert – ihre Auswirkungen auf das Thema „Lebensmittelversorgung am Wohnort“ jedoch nur selten hergestellt und kaum in Zahlen gefasst.
Die Landkreise des Elbe-Weser-Raumes werden nach verschiedenen Prognosen bis etwa 2025 durchschnittlich zwischen fünf und zehn Prozent ihrer Bevölkerung verlieren. In Teilgebieten wird die Bevölkerung sogar deutlich stärker abnehmen. Aber noch eine zweite Entwicklung ist wichtig. Parallel zum Bevölkerungsrückgang werden die verbliebenen Einwohner immer älter: Im gleichen Zeitraum wird die Zahl der alten Menschen in der Altersgruppe, die älter ist als 80 Jahre, um zwischen 50 und 80 Prozent steigen. Eine Bevölkerungsgruppe also, die meist wegen einer bereits stark eingeschränkten Mobilität auf eine funktionierende Grundversorgung vor Ort angewiesen ist.
Einzelhandel ist der Maßstab für Lebensqualität
Der Einzelhandel war schon immer ein Maßstab für die Qualität der Lebensbedingungen. Wohnen ausreichend viele und kaufkräftige Bürger vor Ort, sind die Bedingungen für Geschäfte mit attraktiven Angeboten gut. Ladenleerstände sind dagegen ein Alarmsignal für einen bestehenden Strukturwandel, der sich nicht in geordneten Bahnen bewegt. Schließt der letzte Lebensmittelkaufmann seinen Laden, hat dies nicht nur Auswirkungen auf die Immobilie. Eine fehlende Nahversorgung stößt meist weitere Entwicklungen an. Können die Nahrungsmittel nicht am Wohnort gekauft werden, verlagern sich nicht nur die Einkaufsgewohnheiten, sondern auch die Beziehungen der Einwohner zu ihrer Gemeinde.
„Die Schulpflicht der Kinder, ein neuer Arbeitsplatz, das steigende Lebensalter, der Wunsch, nicht mehr so oft das eigene Auto benutzen zu müssen, sind Anlässe, über einen dauerhaften Standortwechsel nachzudenken.
Die Gemeinde verliert Einwohner – meist die Jungen und Leistungsfähigen.“
Die Gemeinde verliert Einwohner, meist sind es die Jungen und Leistungsfähigen, die zuerst gehen. Die demographische Entwicklung beschleunigt die Ausdünnung des Einzelhandelsangebotes auf dem Land – und umgekehrt. Zunächst werden nur die Einkäufe an anderer Stelle erledigt, dann werden dort auch andere Dienstleistungen getätigt, wie Bankdienstleistungen, Arztbesuche, Tanken, der Besuch von Sport- und Kulturveranstaltungen. Schließlich wird auch über einen Wohnungswechsel nachgedacht. Die Schulpflicht der Kinder, ein neuer Arbeitsplatz, das steigende Lebensalter, der Wunsch, nicht mehr so oft das eigene Auto benutzen zu müssen, sind Anlässe, über einen dauerhaften Standortwechsel nachzudenken. Die Gemeinde verliert Einwohner, meist sind es die Jungen und Leistungsfähigen, die zuerst gehen. Dies geht auch zu Lasten von Vereinen, privaten und öffentlichen Dienstleistern. Schwach ausgelastete Infrastruktur ist teuer.
Nahversorgung, Landflucht, Aufrechterhaltung der Wohn- und Lebensqualität gehören zusammen. Sollen die bestehenden öffentlichen Infrastruktur- und Dienstleistungsangebote weiter aufrechterhalten bleiben, müssen also auch Konzepte für funktionierende Versorgungsstrukturen entwickelt werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die Bevölkerungszahlen sinken und der Anteil alter und nur noch eingeschränkt mobiler Menschen in den kommenden Jahren deutlich steigen wird.
Strategien für die Zukunft
Es geht beim Thema „Einzelhandelsversorgung“ nicht nur um den letzten Kaufmann vor Ort. Es geht auch um die Vielzahl anderer öffentlicher und privater Dienstleistungsangebote, die ausbluten, wenn Menschen zunehmend in die Stadt pendeln müssen, um ihren täglichen Bedarf decken zu können.
Entwicklungspläne und Raumordnung unterstreichen seit den 70er Jahren, dass die Sicherung der „verbrauchernahen Versorgung“ ein wichtiges Ziel sei. Um dies umzusetzen, wurde vor allem versucht, die Ansiedlung oder Expansion von Filialbetrieben durch das Instrumentarium der Regional- oder Bauleitplanung zu steuern oder ganz zu unterbinden. Die Entwicklung der zurückliegenden Jahrzehnte zeigt jedoch, dass dieser Weg kaum erfolgreich war. Auch dort, wo es keine Discounter gibt, fehlen heute (kleine) Lebensmittelbetriebe. Es reicht also nicht, den Wettbewerb zu begrenzen: Weiterreichende Konzepte müssen maßgeschneidert entwickelt werden, um die Nahversorgung wieder sicherzustellen.
Der „Markt“ wird für dieses Problem keine Lösungen entwickeln. Filialisten und Discounter werden die Versorgungslücken nicht schließen. Deshalb ist politisches und bürgerschaftliches Engagement gefordert. Regional- und Bauleitplanung oder ein „guter Wille“ alleine sind nicht ausreichend, um dauerhafte Erfolge zu erzielen.