Die Einführung eines auf drei Monate befristeten, bundesweit gültigen 9 €-Tickets für den ÖPNV gehörte zu den eher unerwarteten Antworten, die die Bundesregierung auf die aktuellen Herausforderungen und die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gegeben hat. Neben einer angestrebten Entlastung der Bürger wird sie als ein bundesweiter Feldversuch gesehen, wie günstige Tarife im ÖPNV wirken. Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für eine zukunftsfähige ÖPNV-Finanzierung und erforderliche Prioritäten ableiten?
Die Sicherstellung einer auskömmlichen ÖPNV-Finanzierung, die sowohl gleichwertige Lebensverhältnisse sichert als auch zum Erreichen der Klimaschutzziele beiträgt, gehört zu den wichtigen politischen Aufgaben, die es zu lösen gilt. Angesichts deutlich gestiegener Bau- und Personalkosten sowie vor allem der dramatisch gestiegenen Energiepreise als Folge der Corona-Pandemie und des Kriegs in der Ukraine steht die notwendige Finanzierung von Ausbau und Modernisierung des ÖPNV aktuell vor einem Scheideweg. Ist die Fortführung des 9 €-Tickets die Antwort darauf?
Die Antwort muss „nein“ lauten. Länder, Kommunen und Verkehrsbranche hatten bereits im Frühjahr gefordert, die Regionalisierungsmittel kurzfristig um mindestens 1,5 Milliarden Euro anzuheben, um angesichts der massiv gestiegenen Kosten Liquiditätsengpässe und Betriebsaufgaben bei den Verkehrsunternehmen abzuwenden und das bestehende ÖPNV-Angebots- und Tarifniveau sichern zu können. Nach den Ergebnissen des „VDV-Leistungskostengutachten“ von Roland Berger müssten zudem zu Erreichung der Klimaziele und zur Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse bis 2030 die Regionalisierungsmittel pro Jahr um jeweils weitere 1,5 Milliarden Euro erhöht werden, damit das ÖPNV-Angebot in Stadt und Land weiter ausgebaut und auch in der Fläche – nicht zuletzt durch On-Demand-Verkehre – mehr und mehr zu einer alltagstauglichen Mobilitätsalternative werden kann. Dies erfordert bis 2030 insgesamt zusätzliche 50 Milliarden Euro.
Der Beschluss zur Einführung eines 9 €-Tickets kam insofern schon vor einem halben Jahr überraschend, denn er bedeutete statt der dringend benötigten Finanzspritze, dass den Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen zunächst Einnahmen und Liquidität entzogen werden. Bund und Länder verständigten sich im Weiteren zwar darauf, die zusätzlichen Einnahmeverluste durch das 9 €-Ticket mit 2,5 Milliarden Euro seitens des Bundes zu kompensieren und über den Corona-Rettungsschirm abzuwickeln. Das hat zumindest sichergestellt, dass das bundesweit gültige und überwiegend digital vertriebene 9 €-Ticket nicht noch zu Einnahmeverwerfungen zwischen den einzelnen ÖPNV-Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen/-verbünden führt, da über den Corona-Rettungsschirm alle auf das Einnahmenniveau 2019 ausgeglichen werden, gleichgültig, ob die Einnahmeverluste auf Corona oder dem 9 €-Ticket beruhen. Die zentralen Finanzierungsherausforderungen für die Sicherung und den künftigen Ausbau des Bestandsangebots blieben allerdings ungelöst.
Große Resonanz des 9 € Tickets
Diese drängenden Finanzierungsfragen sind vorerst überdeckt worden durch die positive Resonanz, die das 9 €-Ticket in der Bevölkerung hatte. Wenig überraschend erfreute es sich großer Beliebtheit, zumal während der Urlaubszeit. In den drei Monaten seiner Gültigkeit wurden rund 52 Millionen Tickets verkauft. Der Charme des 9 €-Tickets lag dabei sicherlich in der bundesweiten Gültigkeit, dem einfachen Tarif und dem unschlagbar günstigen Preis. Durch die hohe Nachfrage haben die Fahrgastzahlen im ÖPNV vielfach wieder das Niveau vor Corona erreicht.
Eine abschließende Evaluierung des 9 €-Tickets steht noch aus. Erfahrungen aus den Landkreisen und erste Untersuchungen bestätigen allerdings in vielen Punkten die schon anfänglich kritische Haltung des Deutschen Landkreistages: Das Angebot wurde stärker von der Bevölkerung in Großstädten und verdichteten Räumen genutzt, wo es ein gut ausgebautes, dichtes ÖPNV-Angebot gibt. In ländlichen Räumen, wo der ÖPNV nicht gut ausgebaut ist, konnte die Bevölkerung das 9 € Ticket dagegen weniger nutzen. Selbstverständlich gibt es auch hier Menschen, die von dem vergünstigten Tarif profitiert haben, und bisweilen wurde das bestehende Angebot auch hier intensiver als sonst genutzt. Wo das Angebot unzureichend ist und die alltäglichen Mobilitätsbedürfnisse nicht oder kaum befriedigt, ist jedoch selbst ein 9 €-Ticket kein attraktives Angebot.
Zu großen Teilen wurde das 9 €-Ticket auch für zusätzliche Fahrten und Reisen genutzt. Laut VDV kam es zu 27 Prozent mehr Fahrten im ÖPNV, die ohne das Ticket gar nicht stattgefunden hätten. Das deckt sich mit der Beobachtung, dass es zu Überlastungen insbesondere im Freizeitverkehr zu touristisch reizvollen Zielen gekommen ist, weniger auf Pendlerstrecken. Ein extrem günstiger Flatrate-Tarif setzt insofern offenbar auch (Fehl-)anreize für zusätzlichen Verkehr. Auch Radfahrer und Fußgänger haben das Angebot stärker genutzt. Dagegen hat das Angebot offenbar nur wenig dazu beigetragen, dass das eigene Auto stehen gelassen wird: Der VDV hatte zunächst angegeben, es seien nur 3 Prozent der Autofahrten durch ÖPNV-Fahrten ersetzt worden. Neuerdings hat der Verband, der sich inzwischen für eine Nachfolgeregelung stark macht, erklärt, dass circa 10 Prozent der Fahrten, die sonst mit dem Auto stattgefunden hätten, durch ÖPNV-Fahrten ersetzt worden seien. Dadurch seien in drei Monaten rund 1,8 Mio. Tonnen CO2 eingespart worden – fast so viel, wie durch ein Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen in einem ganzen Jahr. Unklar ist dabei, inwieweit der korrigierte, deutlich höhere Wert von 10 Prozent die zusätzlichen Freizeitverkehre einschließt. Der VDV hat noch keine Rohdaten veröffentlicht. Hier muss die weitere Evaluierung abgewartet werden.
Diskussion um 9 €-Nachfolgeticket und künftige Finanzierungsbedarfe
Nachdem Bundesverkehrsminister wie Bundesfinanzminister weitere Bundesmittel für eine Nachfolge zum 9 €-Ticket zunächst abgelehnt hatten, hat die Bundesregierung inzwischen eine Wende vollzogen und mit dem Dritten Entlastungspaket beschlossen, dass der Bund künftig pro Jahr 1,5 Milliarden Euro für ein bundesweit nutzbares, digital buchbares Nahverkehrsticket bereitstellen will, wenn die Länder mindestens den gleichen Betrag dazugeben. Das Ticket soll sich dabei im preislichen Rahmen zwischen 49 € und 69 € pro Monat bewegen.
Was lässt sich nun aus den Erfahrungen des 9 €-Tickets für die weitere Debatte ableiten?
Zunächst ist festzuhalten, dass einfache und günstige Tarife unbestritten zur Attraktivität des ÖPNV maßgeblich beitragen können. Hier besteht gerade auch in der Fläche außerhalb der Ballungsräume vielfach Verbesserungspotential.
Gleichzeitig hat sich allerdings auch gezeigt, dass günstige Tarife allein ein unzureichendes Angebot nicht kompensieren können. Selbst mit einem unschlagbar günstigen „Schleuderpreis“ von 9 € ist das Ziel der Verkehrsministerkonferenz einer Verdoppelung der Fahrgastzahlen in keiner Weise zu erreichen. Vielmehr scheint es sogar Fehlanreize für zusätzlichen Verkehr zu geben. Tickets zu einem Preis von 49 € bis 69 € pro Monat lassen keine vergleichbare Nachfrageeffekte erwarten, wie das 9 €-Ticket (zumal zur Haupturlaubszeit), weil die Menschen dann wieder preissensitiver sind.
Die Erfahrungen mit dem 9 €-Ticket machen insofern deutlich, dass der Angebotsausbau am Ende wichtiger ist als ein sehr günstiges Ticket und Vorrang haben muss gegenüber reinen Tarifmaßnahmen.
Durch die unterbliebene Finanzspritze im Frühjahr mussten verschiedene Verbünde nach Auslaufen des 9 €-Tickets bereits die Tarife anheben oder haben mit Angebotsreduzierungen reagiert. Es ist deshalb – wie von der Verkehrsministerkonferenz zu Recht gefordert – nun umso drängender, die Regionalisierungsmittel des Bundes sehr kurzfristig um mindestens 1,65 Milliarden Euro anzuheben, damit trotz explodierender Energie- und Betriebskosten das bestehende Angebots- und Tarifniveau gesichert werden kann. Darüber hinaus ist dann zunächst und vorrangig in die Verbesserung des ÖPNV-Angebotes in der Fläche zu investieren, damit der ÖPNV auch hier seinen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele und zur Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse leisten kann.
Eine weitere vordringlich zu klärende Frage ist ebenfalls noch offen, nämlich, wie bei einem bundesweit gültigen, digital buchbaren Ticket die Fahrgelderlöse weiterhin bei den Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen ankommen, die das Angebot vor Ort vorhalten müssen. Der Einnahmenverlustausgleich für das 9 €-Ticket war mit dem Corona-Rettungsschirm gekoppelt und konnte diese Problem daher ausblenden. Für ein Nachfolgeticket wäre ein neuer Mechanismus nötig. Bislang gibt es jedenfalls keinerlei Konzept für ein bundesweites Einnahmenaufteilungsverfahren, das insbesondere auch sicherstellt, dass längere Ausflugsfahrten am Wochenende bei der Einnahmenverteilung nicht zu einer nachteiligen Einnahmenverlagerung zulasten des ländlichen Raums in Richtung SPNV-Anbieter – vor allem Deutsche Bahn – führen.
Deshalb ist meine Schlussfolgerung, die Diskussion wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen: Erst Sicherung des Bestands, dann Sicherstellung einer auskömmlichen und bedarfsgerechten Finanzierung des notwendigen Ausbaus bewerkstelligen und sich dann darauf aufbauend der Nachfolge des 9 €-Tickets zuwenden. Diese Vorgehensweise kann auch bedeuten, in Zwischenschritten die Ticketstruktur kundenorientiert zu vereinfachen.
Autor: Landrat Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistages
Dieser Beitrag erscheint in der Oktober-Ausgabe der kommunalpolitischen blätter (KOPO).
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