Deutschland reiht sich im internationalen Vergleich in die Riege fortschrittlicher Einwanderungsländer ein. Das ist die Quintessenz des jetzt erschienen Jahresgutachtens des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Das Ergebnis entspreche nicht der Selbstwahrnehmung Deutschlands im öffentlichen Diskurs. „Wir sind besser als wir glauben“, so die Vorsitzende des SVR, Prof. Dr. Christine Langenfeld.
Deutschland habe politisch-konzeptionell in vielen Bereichen des Migrationsmanagements und der Integrationsförderung in den vergangenen Jahren deutlich aufgeholt und könne sich im Vergleich mit klassischen Einwanderungsländern sehen lassen. „In der politischen Debatte in Deutschland wird dies häufig übersehen“, sagte Langenfeld. „Das gute Abschneiden Deutschlands bedeutet aber nicht, dass wir uns zurücklehnen können. Es fehlt nach wie vor eine migrationspolitische Gesamtstrategie. Dies müsste auch die Identifikation künftiger Herkunftsländer von Neuzuwanderern umfassen, in denen sich Deutschland als Einwanderungsland positioniert. Zudem gilt es, das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland zu festigen.“
Das Lernen von Anderen steht im Mittelpunkt des SVR-Jahresgutachtens 2015. Das Thema wurde aufgegriffen, weil im politischen Diskurs häufig die Forderung auftaucht, es so zu machen wie Kanada oder Schweden oder die USA. Und gleichzeitig herrscht die Meinung vor, Deutschland sei ein migrationspolitischer Nachzügler. Diese Behauptungen zeugen allerdings von wenig Sachkenntnis. Das Jahresgutachten vergleicht daher sehr systematisch die Migrations- und Integrationspolitik Deutschlands vor allem mit Ländern, die in der öffentlichen Wahrnehmung als besonders erfolgreich und somit als mögliche migrations- und integrationspolitische Vorbilder gelten (Kanada, USA und Schweden sowie weitere europäische Länder). Der Ländervergleich zeigt in drei zentralen Bereichen der deutschen Migrations- und Integrationspolitik, bei der Arbeitsmigration, dem Staatsbürgerschaftsrecht und der Asylpolitik, dass Deutschland von erfolgreichen Einwanderungsländern nur bedingt lernen kann: „Deutschland kann aus drei Gründen nicht einfach ‚Blaupausen‘ nutzen, die in anderen Ländern entwickelt wurden“, sagte Langenfeld. Zum einen stellen länderspezifisch unterschiedliche politische, ökonomische, soziale oder geografische Rahmenbedingungen die im politischen und medialen Diskurs beliebte Empfehlung eines einfachen Imports einer – in einem anderen Land (anscheinend) bewährten – politischen Maßnahme in Frage.
Zum anderen ist Deutschland mittlerweile in Bereichen wie der Arbeitsmigrationspolitik selbst zu einem Vorreiter einer modernen Migrationspolitik geworden. Schließlich gibt es eine Tendenz zur Konvergenz – mit der Folge, dass sich die Politik zahlreicher Einwanderungsländer einander annähert und immer mehr ähnelt. Gerade Kanada und Deutschland haben sich beispielsweise in der Arbeitsmigrationspolitik stark aufeinander zubewegt: Kanada hat sich von seinem rein humankapitalorientierten, d. h. ausschließlich an der Qualifikation der Bewerber orientierten Punktesystem verabschiedet (ein Arbeitsvertrag wurde zum entscheidenden Kriterium der Zuwanderung), während Deutschland sein ausschließliches Prinzip ‚Keine Zuwanderung ohne Arbeitsvertrag‘ aufgegeben hat. Drittstaatsangehörige mit Hochschulabschluss erhalten seit 2012 ein Visum zur Arbeitsuche, ohne dass ein Arbeitsvertrag vorliegen muss (§ 18c AufenthG). Eine ähnliche Regelung ist für nicht akademische Fachkräfte geplant (§ 17a des Gesetzentwurfs zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung). Dies verkennen Forderungen nach der Einführung eines Punktesystems à la Kanada. „Die im Gutachten herausgearbeiteten Möglichkeiten und Grenzen des Lernens voneinander“, so Langenfeld, „können für die Politik dennoch hilfreich sein, als sie deutlich machen, unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen welche politischen Handlungsspielräume bestehen.“
„Eine erfolgreiche Migrations- und Integrationspolitik umfasst aber weit mehr als nur liberale Gesetze“, sagte Langenfeld. „Deutschland muss sich international, aber auch nach innen noch sehr viel stärker und glaubwürdig als Einwanderungsland definieren und positionieren. Es ist eine zentrale Aufgabe der Politik, in der Bevölkerung ein breit getragenes Selbstverständnis von Deutschland als Einwanderungsland zu fördern. Brennende Asylheime sind ein verheerendes Signal.“ Politik müsse daher in diesem stark von Emotionen geprägten Politikfeld Entscheidungen und Hintergründe besser erklären und deutlich machen, dass Zuwanderung nicht zuletzt aufgrund des demografisch bedingten Fachkräftemangels Chance und Notwendigkeit für Deutschland sei. Politiker müssen stärker als bisher hinausgehen, die Bürgernähe und das Gespräch suchen. Ein modernes Einwanderungsland braucht ein klares Selbstverständnis und eindeutige Regeln für das Kommen und das Zusammenleben. In Deutschland sind das die Werte des Grundgesetzes, deren Einhaltung von allen einzufordern ist. Das vom SVR bereits mehrmals angemahnte migrationspolitische Gesamtkonzept wäre auch für den Dialog mit den Bürgern ausgesprochen hilfreich.