Die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat mit ihren Landeshaushalten innerhalb von drei Jahren drei schwere Niederlagen vor dem Verfassungsgerichtshof in Münster erlitten. Dabei haben die Richter gleich mehrfach Maßstäbe gesetzt, die über die Grenzen Nordrhein-Westfalens Bedeutung haben werden. Das gilt auch und gerade für das Urteil vom 12. März 2013 (VerfGH 7/11)
In seinem Urteil hat das Gericht der Regierung Kraft ins Stammbuch geschrieben: auf eine „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ können sich Regierung und Parlament nur dann berufen, wenn das sachlich vertretbar, auf aktuellen Konjunkturdaten beruht und methodisch widerspruchsfrei ist. Es reicht nicht aus, eine „Störungslage“ einfach zu behaupten. Sie muss auch da sein oder zumindest sehr nachvollziehbar drohen. Als „politische Ausrede“ oder „Ausweichstrategie“ dürfte diese Ausnahmevorschrift damit kaum noch taugen. Insofern hat NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans nicht nur den Bogen deutlich überspannt. Er hat auch sich und seinen Kollegen klare Grenzen für die nächsten Jahre bis zur endgültigen Geltung der Schuldenbremse im Jahr 2020 aufschreiben lassen. Jeder, der sich ernsthaft um die Begrenzung der Schuldenlast der öffentlichen Haushalte bemüht, dürfte den Münsteraner Richtern für dieses klare Urteil dankbar sein.
Rahmenbedingungen des Haushaltes zeigten keine „Störungslage“
Nach der Überwindung der akuten Konjunktureinbrüche der Jahre 2008 und 2009 ist das Steueraufkommen bei Bund und Ländern ab dem Sommer 2010 parallel zum Wirtschaftsaufschwung wieder deutlich angestiegen. Die Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland für das Jahr 2011 verbesserten sich ab Herbst 2010 von Monat zu Monat.
Dennoch ging die rot-grüne Minderheitsregierung nicht nur bei der verspäteten Vorlage ihres Haushaltsentwurfes 2011 im Februar 2011, sondern auch noch bei Haushaltsverabschiedung im Mai 2011 davon aus, dass in Nordrhein-Westfalen eine „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ vorliege. Die Regierung Kraft behauptete, die zu erwartenden Wachstumsraten bei Konjunktur und Steuereinnahmen seien noch kein hinreichender Beleg für die Überwindung des gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichts im Nachgang zur schweren Weltfinanz- und Wirtschaftskrise. Die in der Krise entstandene „Produktionslücke“ werde erst 2014 wieder aufgeholt sein. Daher sei eine Ausgabenpolitik des Landes erforderlich, die die Regelgrenze der Verfassung überschreite. Genauer gesagt: das Land wollte trotz bester Konjunkturentwicklung und Steuereinnahmen deutlich mehr neue Kredite aufnehmen, als durch Art. 83 Satz 2 der Landesverfassung gestattet.
Die Regierung ignorierte die Verfassung sehenden Auges
Die Verfassung begrenzt die Höhe der Kreditaufnahme auf den Umfang der Nettoinvestitionen des Landes. Im absoluten Ausnahmefall sieht die Vorschrift eine höhere Neuverschuldung vor, wenn der Gesetzgeber dadurch eine „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ abwenden will. Im konjunkturellen Normalfall sollen Regierung und Politik dagegen daran gehindert sein, über alle Maßen auf Kosten der Zukunft Geld auszugeben. Genau an diese Vorgaben wollte sich Rot-Grün in NRW aber nicht halten. Der Landtag beschloss deshalb nach kontroversen Debatten eine Nettoneuverschuldung von 4,82 Milliarden Euro, was etwa 900 Millionen Euro über der Verfassungsgrenze lag. Gleichzeitig wurden wegen der deutlich verbesserten Konjunkturprognosen zusätzliche Steuereinnahmen von rund 1,3 Milliarden Euro eingeplant. CDU und FDP
lehnten den Haushalt als verfassungswidrig ab. Es gebe keine Störungslage. Die Landesregierung finanziere in Wahrheit Wahlgeschenke auf Pump (etwa die Abschaffung von Studiengebühren und das beitragsfreie dritte Kindergartenjahr). Diese Maßnahmen seien jedenfalls auch nicht geeignet, Einfluss auf die weitere Konjunkturentwicklung im Land zu nehmen.
Verfassungsgericht erklärt Haushalt 2011 für verfassungswidrig
Ab dem Sommer 2011 beschäftigte der Landeshaushalt 2011 dann auf Antrag der CDU-Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalen den Verfassungsgerichtshof in Münster. Das daraufhin ergangene Urteil vom 12. März 2013 ist an Eindeutigkeit kaum zu überbieten. Der Kernsatz lautet: Das Haushaltsgesetz 2011 verstößt gegen Art. 83 Satz 2 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen (LV NRW) und ist insoweit nichtig, als die in den Haushaltsplan eingestellten Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen überschreiten.
Die Richter haben in der Begründung folgendes klargestellt: zur Vermeidung übermäßiger Vorbelastungen zukünftiger Haushalte ist eine Störungslage nur dann anzunehmen, wenn es eine begründete Prognose für das bevorstehende
Haushaltsjahr gibt, die klaren Kriterien genügt.
„Die auf diese Weise darzulegenden Beurteilungen und Einschätzungen müssen nicht nur frei von Willkür sein; sie müssen auf Grund der vorliegenden wirtschaftlichen Daten und vor dem Hintergrund der Aussagen der relevanten Institutionen der finanz- und wirtschaftspolitischen Meinungs- und Willensbildung sowie der Auffassungen in Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft nachvollziehbar und vertretbar sein.“ Dabei darf der Gesetzgeber eine „Störungslage“
eher in einer schon andauernden Abschwungphase annehmen als in einer Aufschwungphase mit unerwartet hohen staatlichen Einnahmen. Außerdem müssten sich Regierung und Parlament wegen des Ausnahmecharakters dieser Vorschrift intensiv mit allen aktuellen Erkenntnissen (etwa zu Konjunktur und Einnahmeentwicklung) auseinandersetzen, die zumutbar auch in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren noch zu bearbeiten seien.
Die Anwendung dieser Kriterien führen das Gericht zu seiner mehr als eindeutigen Analyse hinsichtlich des Haushaltes 2011: „Die Annahme, im Jahr 2011 habe noch ein Abschwung vorgelegen oder unmittelbar bevorgestanden, wurde im Gesetzgebungsverfahren von niemandem vertreten. Im Gegenteil erwarteten (Landesregierung und Landtagsmehrheit, der Verf.) in Übereinstimmung mit sämtlichen Wirtschaftsforschungsinstituten eine unerwartet kräftige Erholung mit vergleichsweise hohen Steuereinnahmen.“ Kurz gesagt: die Begründung von Rot-Grün zur „Störungslage“ passten in keiner Weise zur wirtschaftlichen Wirklichkeit im Land und auch nicht zu den Prognosen über den weiteren Verlauf des Jahres 2011. Finanzminister Walter-Borjans hatte versucht, die Wahlgeschenke der Minderheitsregierung Kraft/Löhr mann über verfassungsrechtliche Tricksereien zu legalisieren und zu finanzieren. Das Verfassungsgericht hat ihm das in deutlichen Worten bescheinigt. Die Begründungen qualifiziert das Gericht im Grunde als wortreiche Ausreden. Eine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung einer „Störungslage“ jedenfalls hat er nicht geliefert.
Verantwortliche Politik ist gefragt, nicht Schuldenmacherei
Zwar hat die Verfassungswidrigkeit des Haushaltes 2011 keine unmittelbaren Folgen (anders als dies beim Haushaltsvollzug 2010 der Fall war, als Rot-Grün schon vorgenommene Rücklagenbildungen rückabwickeln musste). Denn das Haushaltsjahr war ja zum Zeitpunkt des Urteils schon vorbei. Die Wirkung ist aber dennoch eine doppelte: zum einen steht Rot-Grün mit drei verfassungswidrigen Haushalten in drei Regierungsjahren politisch blamiert da. Zum anderen erhöht sich der Konsolidierungsdruck bis zum Inkrafttreten der Schuldenbremse auf Länderebene im Jahr 2020 deutlich. Nur noch in Zeiten einer schweren Krise der Volkswirtschaft bleibt den Finanzministern in den Bundesländern in Zukunft der notwendige zusätzliche Handlungsspielraum. Die nordrhein-westfälischen Verfassungsrichter haben den Griff in die „Trickkiste“ jedenfalls deutlich erschwert. Schlimm ist das für alle Befürworter einer nachhaltigen Haushalts- und Finanzpolitik nicht. Vielleicht setzt sich irgendwann doch die Erkenntnis durch, dass verantwortliche Politik Entscheidungen treffen muss, die auch die Zukunft im Blick haben. Der demografische Wandel, vor dem nicht nur Nordrhein-Westfalen steht, macht diese Aufgabe nur noch aktueller.
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