Von Großbauprojekten wie Stuttgart 21 oder dem Bau von Stromtrassen fühlt sich eine Mehrheit der Bürger zwar direkt betroffen, aber nur eine Minderheit engagiert sich persönlich – dafür oder dagegen. Da die meisten Betroffenen allerdings eine moralische Verpflichtung zur Bürgerbeteiligung sehen, delegieren sie zum großen Teil Engagement und Verantwortung zum Beispiel an Bürgerinitiativen. Wissenschaftler der Universität Heidelberg sprechen von einem Zeitalter der „Pseudopartizipation“.
Von Großbauprojekten wie Stuttgart 21 oder dem Bau von Stromtrassen fühlt sich eine Mehrheit der Bürger zwar direkt betroffen, aber nur eine Minderheit engagiert sich persönlich – dafür oder dagegen. Da die meisten Betroffenen allerdings eine moralische Verpflichtung zur Bürgerbeteiligung sehen, delegieren sie zum großen Teil Engagement und Verantwortung zum Beispiel an Bürgerinitiativen. Das zeigt eine Studie des Centrums für soziale Investitionen und Innovationen (CSI) der Universität Heidelberg. Die Wissenschaftler befragten insgesamt 200 Anwohner von drei beispielhaften Infrastrukturprojekten in unterschiedlichen Regionen Deutschlands. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Mehrzahl der Bürger „Aktivisten im Geiste“ seien, so dass sich von einem Zeitalter der „Pseudopartizipation“ sprechen lasse.
Für die Studie, CSI_Policy_Paper_Betroffen_aber_nicht_aktiv die in Zusammenarbeit mit der Hertie School of Governance (Berlin) entstand, wurden jeweils zur Hälfte Frauen und Männer interviewt. Diese wohnten in unmittelbarer Nähe zu Projekten der Stadtentwicklung, der Energiewende und der regionalen Wirtschaftsförderung. Dabei ging es um die Teilbebauung des ehemaligen Flughafens Tempelhof in Berlin (Tempelhofer Feld), den Ausbau von Windenergie in der Region Stuttgart und den Bau eines Möbelhauses auf einem Schrebergartengelände in Kiel. Die Forscher konzentrierten sich auf die Bürger, die trotz einer als negativ empfundenen Betroffenheit nicht aktiv wurden, was auf annähernd zwei Drittel der 200 Befragten zutraf. Beim Tempelhofer Feld lag der Anteil dieser Gruppe sogar bei mehr als 90 Prozent. Befragt wurden außerdem Vertreter von Bürgerinitiativen sowie lokale politische Akteure.
„Bemerkenswert ist, dass das Nicht-aktiv-Werden der meisten Befragten nicht daran liegt, dass sie die Möglichkeiten von Partizipation nicht kennen oder nicht wertschätzen – im Gegenteil: Fast alle gaben an, dass sie eine moralische Verpflichtung sehen, sich aktiv bei Infrastrukturvorhaben im unmittelbaren Umfeld zu engagieren“, erklärt Hanna Hielscher, die die Befragung gemeinsam mit Dennis Klink durchgeführt hat. Die Tatsache, dass sie dies dennoch nicht taten, rechtfertigten sie beispielsweise mit dem Hinweis darauf, dass sie stattdessen „Überzeugungsarbeit im Freundes- und Familienkreis“ leisteten. „Die Beteiligungskultur und die Pflicht des aktiven Bürgerseins scheinen verinnerlicht zu sein, nicht jedoch ihre Umsetzung.“
Wie die Forscher feststellen, fühlten sich die meisten Bürger zudem selbst bei konkreten Möglichkeiten zur Partizipation macht- und einflusslos und gaben an, sie wüssten nicht, wie sie sich engagieren sollten, auch wenn sie Möglichkeiten eines Bürger- oder Volksentscheids durchaus nutzten. Außerdem macht die Komplexität der Projekte es offenbar oft schwer, die Folgen abzuschätzen. „Zur Lösung des Problems delegieren daher viele Bürger Engagement und Verantwortung an Bürgerinitiativen oder andere zivilgesellschaftliche Akteure – mit der Tendenz, zum Teil blindes Vertrauen in diese zu setzen“, sagt Dennis Klink.
Dieses „Engagement-Outsourcing“ an „Partizipationsdienstleister“ wirft nach Einschätzung der Wissenschaftler weitreichende Fragen auf: Besitzt die Bürgerbeteiligung so überhaupt eine Legitimität und werden Bürgermeinungen tatsächlich adäquat repräsentiert? „Auffällig ist, dass sich die individuellen Vorstellungen für ein gewisses Projekt oft nicht oder nur teilweise mit denen der Bürgerinitiative decken. Diese moralisch zu unterstützen, scheint vielen Befragten dennoch der richtige Weg zu sein, ihre Einflusschancen zu wahren. Wer genau hinter einer solchen Initiative steht oder dass diese Personen im Gegensatz zu Politikern nicht demokratisch legitimiert sind, wird von den Befragten jedoch kaum thematisiert“, heben Hielscher und Klink hervor. „Das fast blinde Vertrauen vieler Bürger könnte somit dem Machtmissbrauch Einzelner Vorschub leisten, die unter dem Deckmantel des Gemeinwohls Partikularinteressen durchsetzen wollen.“
Der positiven Sicht von Bürgerbeteiligung liege die Annahme zu Grunde, dass sie demokratische Prozesse intensiviere und Entscheidungen nachhaltig legitimiere. „Sind es aber nur einige Wenige, die so zu großem Einfluss kommen, wird der Versuch der vermeintlich demokratischen Praxis ad absurdum geführt.“