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Niedriglohnsektor: Sackgasse oder Sprungbrett?

Allgemein, Arbeitsmarkt, Forschung

Rund 7,7 Millionen und damit mehr als ein Fünftel aller abhängig Beschäftigten in Deutschland verdienten 2018 weniger als 11,40 Euro brutto pro Stunde und arbeiteten damit im Niedriglohnsektor. Ein großer Teil von ihnen erhielt sogar weniger als den gesetzlichen Mindestlohn. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie des DIW Econ, einer Tochter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.

Seit den 1990er Jahren ist Deutschlands Niedriglohnsektor um gut 60 Prozent gewachsen – in keinem anderen europäischen Land mit vergleichbarer Wirtschaftsleistung nimmt der Niedriglohnsektor ein solches Ausmaß an.

Mit der Ausweitung des Niedriglohnsektors wurde das Ziel weitgehend erreicht, Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Allerdings mit Nebenwirkungen: Zunehmend werden auch qualifizierte Tätigkeiten unterhalb der Niedriglohnschwelle vergütet. So ist die Anzahl Niedriglohnbeschäftigter, die Tätigkeiten mit mittleren und hohen Qualifikationsanforderungen ausüben, seit Mitte der 1990er Jahre um knapp eine Million Beschäftigte auf über drei Millionen angewachsen. Dies entspricht rund 40 Prozent aller Niedriglohnbeschäftigten.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Hoffnung eines Aufstiegs in besser bezahlte Tätigkeiten für die Hälfte der Niedriglohnbeschäftigten nicht erfüllt hat: Jeder zweite von ihnen verharrte auch vier Jahre später noch im Niedriglohn, zehn Prozent wurden arbeitslos oder waren nicht mehr am Arbeitsmarkt aktiv. Lediglich 27 Prozent gelang der Sprung über die Niedriglohnschwelle. Dabei beeinflussen Geschlecht, Qualifikation und Alter der Erwerbstätigen nicht nur die Verbreitung von Niedriglohnbeschäftigung, sondern auch die Aufstiegschancen. So werden Frauen wesentlich häufiger als Männer schlecht bezahlt. Während 2018 rund 28 Prozent der erwerbstätigen Frauen zu Niedriglöhnen arbeiteten, taten dies lediglich 16 Prozent der Männer. Insgesamt sind Frauen mit 61 Prozent aller Niedriglohnbeschäftigten überrepräsentiert. Ihnen gelingt auch seltener als Männern der Aufstieg in bessere Bezahlung (25 gegenüber 32 Prozent).

In Berufen, die eine hohe Qualifikation erfordern, schafften es zuletzt 60 Prozent der Beschäftigten innerhalb von vier Jahren über die Niedriglohnschwelle. Bei einfachen und mittleren Tätigkeiten lag der Anteil bei 31 beziehungsweise 22 Prozent.

Im Vergleich mit über 50-Jährigen waren jüngere Beschäftigte (18- bis 29-Jährige) 2018 häufiger im Niedriglohnsektor tätig (18 gegenüber 37 Prozent). Dabei erwies sich der Niedriglohnsektor für Berufseinsteiger eher als Sprungbrett, auch wenn der Aufstieg für sie in den vergangenen zehn Jahren schwerer geworden ist. Zuletzt überwand jeder Dritte innerhalb von vier Jahren die Niedriglohnschwelle, von den älteren Beschäftigten gelang dies nur noch jedem Fünften.

Beschäftigte in Branchen, deren Systemrelevanz seit Ausbruch der Corona-Krise erkannt wurde, machen einen Großteil der Niedriglöhner aus: 2018 waren mehr als die Hälfte der Niedriglohnbeschäftigten im Groß- und Einzelhandel, in der Transport- und Nahrungsmittelindustrie sowie in den Bereichen Bildung, Gesundheits- und Sozialwesen tätig.

Die Corona-Krise verstärkt die Probleme des Niedriglohnsektors – vor allem für Minijobberinnen und Minijobber. Ohne das Sicherheitsnetz des Kurzarbeitergeldes erleiden sie als erste Einkommenseinbußen oder verlieren ihre Arbeit. Besonders prekär ist die Lage von Beschäftigten, bei denen der Minijob den Haupterwerb darstellt – rund drei Viertel von ihnen verdienten 2018 weniger als 11,40 Euro pro Stunde und ein Aufstieg aus dem Niedriglohn gelang ihnen nur halb so häufig wie Vollzeitbeschäftigten. Sie haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld und der drastische Beschäftigungsrückgang bei dieser Gruppe von 4,6 Prozent im März 2020 im Vergleich zum Vorjahresmonat zeigt: Insbesondere für Haushalte im unteren Bereich der Einkommensverteilung bricht derzeit ein erheblicher Teil des verfügbaren Einkommens weg. Soll der deutsche Arbeitsmarkt resilienter werden, gilt es auch schlecht abgesicherte Beschäftigungsformen, wie die Minijobs, zurückzudrängen.

Um den Niedriglohnsektor einzudämmen, plädieren die Studienautoren daher vor allem auch für eine Reform der Minijob-Regelung, die den Übergang in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse fördert. Eine Option hierfür ist, die Schwelle für Minijobs von 450 Euro abzusenken, sodass Beschäftigte bereits ab einer geringeren Höhe von beispielsweise 250 Euro Sozialversicherungsbeiträge abführen und so auch in Krisenzeiten besser abgesichert sind. Zusätzlich können Reformen im Steuer-, Abgaben- und Transfersystem dazu beitragen, Belastungen am unteren Ende der Einkommensverteilung zu reduzieren, um Arbeitsanreize zu stärken. Durch eine damit verbundene Ausweitung der Arbeitszeit würde auch die Wahrscheinlichkeit eines Aufstieges aus dem Niedriglohnsektor erhöht. Kurzfristig sollten darüber hinaus die Kontrollen zur Einhaltung des Mindestlohns verstärkt werden, um die Einkommenssituation vieler im Niedriglohnsektor Beschäftigten zu verbessern. 2,4 Millionen Menschen in Deutschland erhalten laut Studie unrechtmäßig weniger als ihnen rechtlich zusteht.

Hintergrund

Die Studie „Der Niedriglohnsektor in Deutschland. Falle oder Sprungbrett für Beschäftigte?“, wurde von Dr. Markus M. Grabka und Konstantin Goebler vom DIW Econ im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt. Auf Basis der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), einer seit 1984 durchgeführten repräsentativen Längsschnittbefragung, analysierten sie die Entwicklung des Umfangs und der Struktur des Niedriglohnsektors. Zudem untersuchten sie die Mobilität von 1995 bis 2018 als Gesamtheit und für ausgewählte Subgruppen in mittlerer und längerer Frist. Hierfür betrachteten sie alle in Haupttätigkeit abhängig Beschäftigten, die in den jeweiligen Jahren weniger als zwei Drittel des Medians der Bruttostundenlöhne verdienten und somit im Niedriglohnsektor tätig waren.

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