Ständig unterwegs, viele Sitzungen, keine Zeit für die Familie. Wer sich kommunalpolitisch und ehrenamtlich engagiert, braucht Kraft und Nerven. Geld und Anerkennung sind dagegen kaum zu erwarten. Warum ist das Ehrenamt dann doch attraktiv für viele Bürger? „Zwischen Leidenschaft und Zeitdruck – der Alltag der Ratsmitglieder in Hannover“ von Rolf Paprotny ist eine Studie über die kommunalpolitische Arbeit von ehrenamtlichen Ratsmitgliedern in einer deutschen Großstadt, der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover. KOPO-Chefredakteurin Gaby Grabowski sprach mit Jens Seidel, der an der Studie teilgenommen hat.
KOPO: Warum hat es Sie interessiert, an dieser wissenschaftlichen Arbeit über ehrenamtliche Politik mitzuwirken?
Jens Seidel: Im ersten Moment fand ich die Idee, „Untersuchungsobjekt“ zu werden, nicht gerade reizvoll. Doch der Autor hat mich von der Wichtigkeit überzeugt und so wurde ich einer von vierzehn Kollegen, die sich öffneten und ihren Alltag offenlegten. Mittlerweile glaube ich , dass wir einen Beitrag für ein besseres Verständnis von Politik leisten konnten.
KOPO: Was konnte denn da gerade gerückt werden?
Jens Seidel: In erster Linie wird ja ständig über „bezahlte“ Politik in unseren Medien berichtet. Doch die meisten Politiker engagieren sich ehrenamtlich in unseren Stadt- und Gemeinderäten und sie leisten dabei ungeheuer viel. Sie schaffen es mit ihrem Zeitmanagement Familie, Beruf und das politische Ehrenamt unter einen Hut zu kriegen. Mir war es wichtig, mal darzustellen, wie sich der politische Alltag darstellt und welche Anforderungen an jeden einzelnen Politiker dabei gestellt werden.
KOPO: Nun ist die Studie als Buch unter dem Titel „Zwischen Leidenschaft und Zeitdruck“ erschienen. Mal ehrlich, was überwiegt mehr im politischen Tagesgeschäft, die Leidenschaft oder der Zeitdruck?
Jens Seidel: Die ehrenamtliche Arbeit ist immer geprägt von einem gewissen Zeitdruck. Im Unterschied zur „bezahlten Politik“ haben wir in Hannover im Jahr mehr als 2.500 Verwaltungsdrucksachen zu bearbeiten und zu entscheiden. Hinzu kommen noch hunderte Anträge und Anfragen der Fraktionen im Rat. Schon diese Zahlen machen deutlich, dass es schwer sein dürfte, sich mit Thematiken in aller Tiefe auseinander zu setzen. Doch ohne große Leidenschaft für die Politik, für das Gemeinwesen, für das „Sich einmischen“ wäre es nicht zu leisten.
KOPO: Ohne Leidenschaft geht also nix?
Jens Seidel: Interessanterweise ist genau diese Leidenschaft für Politik die Triebfeder aller Kollegen im Stadtrat, unabhängig von ihrer Fraktionszugehörigkeit. Im Laufe der Studie ist mir selbst abermals bewusst geworden, welche Kraft ich aus der politischen Arbeit ziehe. Es sind unzählige Stunden im Monat, die für verschiedene regelmäßige Veranstaltungen aufgewendet werden. Einerseits kostet dies Energie, andererseits gibt es auch Kraft für die weitere Arbeit. Einer meiner politischen Mentoren sagte mir einmal vor vielen Jahren: Du gehst immer schlauer aus einem Gespräch heraus, als du reingekommen bist. Das mag zwar banal klingen, und ich habe damals nicht verstanden, was er meinte, doch heute kann ich das nachvollziehen.
KOPO: Nun ist die Studie in einer deutschen Großstadt entstanden. Was sind die besonderen Anforderungen für ein politisches Mandat in einer Großstadt?
Jens Seidel: Hannover hat heute mehr 520.000 Einwohnerinnen und Einwohner, die in 54 unterschiedlichen Stadtteilen leben. Da ist von innenstadtnaher Blockrandbebauung bis hin zu reinen Einfamilienhausgebieten alles dabei. Diese Vielfältigkeit für die Gesamtstadt stellt Anforderungen an jedes Ratsmitglied, über den eigenen Wahlkreis hinaus. Und das ist die heutige Situation. Noch vor fünf Jahren sah es anders aus. Hannover drohte unter die Marke von 500.000 Einwohnern abzurutschen. Ich will damit sagen, man sollte bei grundlegenden Themen eine gewisse Flexibilität im politischen Denken und Handeln an den Tag legen. Ideologische Grundüberzeugungen sind wenig hilfreich, weil sich die Umstände, auch in der Kommunalpolitik, heute sehr schnell ändern können. Wer hätte vor fünf Jahren an die dauernde Wirtschafts- und Finanzkrise gedacht? – Es gehört Ausdauer dazu. Ich will es mal so sagen: Kommunalpolitik ist kein 100 m Lauf, eher ein 10.000 m Lauf.
KOPO: Warum hat die Kommunalpolitik Nachwuchssorgen und was sind die Gründe für fehlendes Engagement in der Politik vor Ort?
Jens Seidel: Aus meiner Sicht gibt es mehrere Gründe dafür. Zum einen haben Politiker in den vergangenen Jahren, auch in der Kommunalpolitik, den Menschen viel versprochen. Darunter waren auch Dinge, die nicht immer eingehalten wurden. Aus diesem Grunde sollten sich alle in der Politik Tätigen selbstkritisch hinterfragen; mache ich alles richtig? Andererseits nimmt die Kenntnis über die politischen Prozesse, insbesondere in der Kommunalpolitik, bei vielen Menschen ab.
KOPO: Was könnte man tun, um mehr junge Leute von Politik zu begeistern?
Jens Seidel: Wir haben für Schüler das Planspiel „Pimp your Town“ eingerichtet. Dort „spielen“ alle Beteiligten für einen Tag Ratspolitiker und sind in unterschiedlichen Fraktionen organisiert. So merken die Jugendlichen, wie schwierig Politik ist und wie langwierig unsere Entscheidungsprozesse sein können. Andererseits, wenn ich an die Schulklassen denke, die unsere Ratssitzungen besuchen, dann sehe ich dort gelangweilte Jugendliche mit wenig Interesse. Sie können wenig bis gar nichts mit dem Ablauf einer Ratssitzung anfangen. An dieser Stelle ist die Politik aufgefordert mehr zu tun.
KOPO: Brauchen wir also mehr politische Bildung in unseren Städten und Gemeinden?
Jens Seidel: Eindeutig ja! Ich merke in vielen Gesprächen immer wieder, wie wenig Kenntnisse über die politischen Prozesse doch vorhanden sind. Kaum jemand weiß, dass es z. B. in den Gremien der Stadt Hannover eine Einwohnerfragestunde gibt. Ganz zu schweigen davon, dort einen Bürger anzutreffen. Und wenn tatsächlich einer kommt, dann darf aufgrund der niedersächsischen Kommunalverfassung nur die Verwaltung auf seine Fragen antworten. Spätestens damit haben wir diesen Bürger vergrault und ihm die Lust auf Politik verdorben. – Wenn wir glauben, dass wir mit zwei Schulstunden pro Woche jungen Menschen Politik vermitteln können, werden die Probleme künftig noch größer. Gerade wir als Union betonen das Thema „Bildung“, warum findet sich dann Wissen über unsere Städte und Gemeinden nicht in den Lehrplänen wieder?
Ein PDF Download der Studie steht hier zur Verfügung.
Das gesamte Gespräch lesen sie in der aktuellen Ausgabe der KOPO.