Großveranstaltungen wie das Münchner Oktoberfest sind eine enorme Herausforderung für Veranstalter und Sicherheitskräfte. Wie lassen sich diese Menschenmassen lenken, ohne die Besucher einzuschränken? Wieviel Kontrolle ist notwendig? In einem Interdisziplinären Forschungsprojekt simulieren Wissenschaftler, wie sich die Sicherheit bei Großveranstaltungen verbessern lässt, ohne die Stimmung zu verderben.
Rucksackverbot, Zaun, Kontrollen am Eingang – die für das Oktoberfest 2016 geplanten Sicherheitsmaßnahmen sorgten schon Monate im Voraus für heftige Diskussionen. Wieviel Kontrolle ist nötig? Wann wird sie als Einschränkung empfunden, die das Vergnügen trübt? Und unter welchen Umständen stellen die Sicherheitsmaßnahmen selbst ein Risiko dar, weil sie die Fluchtwege einschränken?
Die Sicherheit bei Großveranstaltungen beschäftigt nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Wissenschaft. Im Projekt MultikOSi – die Abkürzung für Multikriterielle Vernetzung für Offenheit und Sicherheit – untersuchen Mathematiker, Informatiker und Soziologen gemeinsam, wie sich Personenströme bewegen und lenken lassen.
Besucher als mathematisches Modell
„In unseren Simulationen stellen wir Besucherströme als mathematisches Modell dar“, erklärt Prof. André Borrmann vom Lehrstuhl für Computergestützte Modellierung und Simulation der Technischen Universität München (TUM). „Mit diesem Modell können wir sichtbar machen, wo Barrieren auftreten, wo sich Menschen stauen oder sich, weil sie in zwei entgegengesetzte Richtungen unterwegs sind, gegenseitig behindern.“
Die Punkte, an denen Staus und Behinderungen auftreten, aufzuspüren, ist eines der wichtigsten Ziele der Forscher. Denn Gedränge kann schnell zu lebensgefährlichem Chaos führen, das hat das Unglück bei der Loveparade 2010 in Duisburg gezeigt. Damals kamen 21 Besucher ums Leben, mehr als 500 wurden verletzt.
Großveranstaltungen im Modell
Die Bewegung von Zehntausenden Individuen auf einem Großevent im Voraus zu berechnen, ist eine echte Herausforderung, denn das Verhalten des Einzelnen wird durch viele Faktoren beeinflusst: die Lage der Veranstaltungsfläche, die An- und Abreisemöglichkeiten, die Zahl und Anordnung der Verkaufsbuden, Schaugeschäfte, Tanzflächen und Toiletten. Auch Sicherheitskontrollen spielen eine Rolle: Sie führen zu Schlangen, welche die Zufahrts- und Fluchtwege blockieren können.
Der Realitätscheck
Um ihre Modelle zu testen, haben die Forscher im MultikOSi Projekt die Besucherströme des jährlich auf dem Campus der TUM stattfindenden Open Air Festivals „Back to the Woods“ simuliert und dann mit dem Verhalten der realen Besucher verglichen.
„Dafür wurde eine eigene Technologie entwickelt“, berichtet Borrmann. „Während des Festivals haben wir mit Hilfe verschiedener WLAN Empfänger die Bewegung von Smartphones aufgezeichnet. An Hand der anonymen Bewegungsprofile konnten wir dann erkennen, wohin die Besucher gingen, wie lange sich wo aufhielten, ob sie in einer Schlange standen, und ob es irgendwo eng wurde.“
Durch Vergleich dieser Daten mit den mathematischen Modellen können die Forscher erkennen, ob die Berechnungen richtig waren. „Tatsächlich kommen wir rechnerisch sehr nahe an die Realität heran – wobei man nie das Verhalten einer Person komplett voraussagen kann. Die Simulationen liefern nur einen statistischen Mittelwert“, erläutert der Informatik-Professor.
Dynamische Schlangen
Um das Verhalten en détail zu erforschen, hat eine Experten-Gruppe der Hochschule München Videoaufzeichnungen vom „Back to the Woods“ Festival ausgewertet. „Überrascht hat uns das Anstellverhalten“, berichtet Dr. Isabella von Sivers. „Die Warteschlangen waren im vorderen Teil gerade, aber im hinteren Bereich bewegten sie sich stark – eine Schlange wackelt sozusagen mit dem Schwanz.“ Diese Erkenntnis des Teams von Gerta Köster, Professorin für Informatik und Mathematik an der Hochschule München, ist für die Planung eines Events wichtig, weil überall dort, wo sich Schlangen bilden können, genug Platz einkalkuliert werden muss.
Wie sich das Warten auf die Stimmung auswirkt, haben im Projekt MultikOSi Soziologen der Technischen Universität Kaiserslautern untersucht: Besucher des Festivals wurden befragt, wie sie die Eingangskontrollen empfanden und wie sicher sie sich fühlten.
Simulationen für die Praxis
Die neuen Modelle können Organisatoren von Großveranstaltungen jetzt für ihre Planungsarbeit nutzen. „Die Simulationen lassen sich direkt in Computertools für die Eventfirmen einbinden. Damit können diese eine Veranstaltung virtuell durchspielen, rechtzeitig Engpässe erkennen und Veränderungen im Aufbau vornehmen“, resümiert Borrmann. „Auf diese Weise lässt sich die Sicherheit erhöhen, ohne den Spaß am Event zu trüben.“